Zu der Symphonie von Tournemire
mögen folgende Bemerkungen hilfreich sein, jedoch muss betont werden, dass man
als Zuhörer das Werk am besten ganz unvoreingenommen und unmittelbar auf sich
wirken lassen sollte. So ist es sicherlich auch vom Komponisten intendiert.
Charles Tournemire – er starb vor 80
Jahren – ist sicher einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts.
Er schrieb u.a. große Symphonien, Klavierwerke, Kammermusik und zahlreiche
Werke für die großen Kathedral-Orgeln. Tournemire spürte zeit seines Lebens den
geistigen Quellen und Impulsen unseres Daseins nach und entwickelte eine sehr
eigene charakteristische Tonsprache. Fraglos verdankt sich vieles in seinen
Schöpfungen seiner herausragenden Improvisationskunst, für die er von seinen
Zeitgenossen uneingeschränkt bewundert wurde. Tournemire setzt sich in
eindrucksvoller Weise mit der Gregorianik (und der in ihr waltenden
Spiritualität) auseinander, so etwa in dem gewaltigen Zyklus „L’Orgue Mystique”
oder in dem Karfreitags-Zyklus „Sieben Worte Christi am Kreuz”.
Die heute erklingende Symphonie
sacrée op.71 gehört zu einer anderen Werkgruppe, in der sich Tournemire ganz von
historischen Vorbildern emanzipiert und – gleichwohl unter Beibehaltung
überkommener musikalischer Formen wie etwa Präludium und Fuge – konsequent mit
eigenen kompositorischen und klanglichen Mitteln unterschiedliche spirituelle
Themen in Musik setzt. Das können Psalm-Texte sein oder auch die geistliche
Wirkung eines speziellen Kirchenraums.
In der Symphonie
sacrée (wie in anderen seiner Orgelwerke auch) wendet Tournemire die
kompositorische Technik an, eigene Tonskalen zu schaffen. Im Unterschied zu
Messiaen legt er aber nicht eine Anzahl abstrakt zu definierender „Modi” fest,
sondern ordnet einem bestimmten Werk eine singuläre Skala zu (oder auch
mehrere), die nicht ohne weiteres von dem musikalischen Gehalt des betreffenden
Werkes getrennt betrachtet werden können.
Nach Meinung des
Interpreten verfährt man als Hörer allerdings eher im Sinne des Komponisten,
wenn man weniger auf formale Strukturen als sich auf dem klanglichen Geschehen
und die damit intendierte spirituelle Wirkung zu öffnen. Die große
Orgelsymphonie endet übrigens im piano mit einer für Tournemire eigentümlichen
Klangkombinationen: Voix céleste plus Voix humaine, die bei ihm oft auch im
Wortsinne zu verstehen ist: Er suchte die Verbindung der himmlischen mit der
menschlichen Stimme.
*Originaltext
des Tournemire-Kommentars:
« Inspirée par la nef de la cathédrale d’Amiens… Cette oeuvre…
est comme une exaltation de la beauté
des lignes ogivales, et une synthèse sonore de la « Cathédrale ». Une guirlande «
musicale », sorte de paraphrase
aérienne et mouvante, contient en elle-même
toute la substance de cette symphonie; elle donne naissance à un long prélude;
à une partie fuguée, librement; à un
lied infiniment calme; enfin, à un grand développement terminal. »
Note de l‚auteur in Le Guide du Concert, XXIIe année, n° 25,
(20 mars 1936),
p. 696.