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  3. Author: Regina Oschmann
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Gedicht zum 14. März 2020

Lied vom Weltende

Am Tag des Weltendes
summt um die Kapuzinerkresse eine Biene,
flickt der Fischer das glitzernde Netz,
springen im Meer die lustigen Delphine,
junge Sperlinge krallen sich an der Rinne fest,
und die Schlage ist golden, wie sich das gehört.

Am Tag des Weltendes
gehen Frauen unter Sonnenschirmen übers Feld,
schläft der Säufer am Rasenrand ein,
rufen Gemüsehändler auf der Straße
und das Boot mit gelbem Segel
vor der Insel ist bestellt,
der Klang der Geige hängt in der Luft
und die Sternennacht fliegt vorbei.

Und die auf Blitze und Donnerschlag gewartet haben,
sind enttäuscht.
Und die auf Zeichen und Posaunen der Engel gewartet haben,
begreifen nicht, dass es bereits geschieht.

Solange Sonne und Mond sich oben drehen,
solange die Hummel die Rose befliegt,
solange rosige Kinder geboren werden,
glaubt niemand, dass es bereits geschieht.

Nur der grauhaarige Alte, der ein Prophet sein könnte,
doch er ist keiner, denn er hat anderes zu tun,
sagt beim Anbinden der Tomaten:
Es gibt kein anderes Ende.
Ein anderes Ende wird es nicht geben.

Czeslaw Milosz (Warschau 1943)

Briefauszug Gabriel Dessauer

Ja, ich würde gerne mal wieder in der Luth. Pfarrkirche spielen! Das hatte da immer eine ganz eigene, sympathische Atmosphäre.

Ich glaube, es war 1978, ich war 22, hatte ein sogenanntes „Tramper-Ticket“, und wollte einfach mal deutsche Städte kennenlernen. So fuhr ich von München mal nach Marburg, diese Stadt sei so schön, sagten viele. Es war schon Abend, aber erstaunlicherweise war die Lutherische Pfarrkirche noch offen. Ich ging rein, niemand war drin, es war sicher schon nach 19 Uhr, ich hatte den Eindruck, dass man vergessen hatte, sie zuzusperren. So habe ich mich einfach im Altarraum flach auf den Rücken auf den Teppich gelegt und den Raum eingesogen. Ich lag da sicher eine halbe Stunde völlig ungestört. Es war herrlich! Das Erstaunliche ist, dass daraus ein Erlebnis geworden ist, an das ich mich auch noch vierzig Jahre später gerne erinnere. Einfach die Stille, Würde und Freundlichkeit eines Kirchenraumes in sich aufzunehmen – ich zehre jetzt noch davon.

Herzlicher Gruß

Gabriel Dessauer
Kantor an St. Bonifatius in Wiesbaden