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Texte

Konzert am 24. Januar 2015

Eisblumen

Mein kahles Fenster hat über Nacht
ein weißes Gespinst bekommen.
Trüb und verschwommen
erschien der Morgen, als ich erwacht,
und ich fuhr mir benommen
mit der Hand übers Gesicht.
Das dunkle Dämmerlicht
machte mich beklommen,
sodass ich aufschrak und nach dem Fenster sah:
Das war mir plötzlich zum Greifen nah,
und ich gewahrte die weiße Pracht
der Eisblumen – ihren kristallenen Schimmer –
und konnte mich nimmer
losreißen von diesem Zauberbild:
Wie das Licht so gedämpft und mild
Durch die Scheiben quoll!
Wundersam wurde mein Ängsten gestillt,
und ein Ahnen erfüllte mein Herz:
Ist nicht der Schmerz
Nur deshalb in der Welt,
dass er mit seinen kalten Kristallen
die Wunden verschlossen hält,
aus denen wir verbluten müssten
und mir war, als ob die Blumen darum wüßten,
und in mir war seliges Wohlgefallen.
Helmut Metzker
Manchmal
Auch sitze ich manchmal
und male krumme Linien aufs Papier;
und ich denke mir
nichts dabei –
sitze nur und male, male …
male nur; und wie vom goldnen Strahle
eines Knabenlächelns zart umwoben
schau ich meinem Malen zu. –
Und ich freue mich
an dem leichtbeschwingten Gleiten
meiner Hand!
Und es ist mir
wie ein wundersames Schreiten
in ein fernes, unbekanntes Land
voller Ewigkeiten …
Und ich freue mich
an den krausen, rätselhaften Schlingen –
und ich weiß
auf einmal von den letzten Dingen,
dass sie krauser nicht und rätselhafter sind,
wenn du ihnen wie ein gläubig frohes Kind
gegenüberstehst –
und wieder bin ich Kind
wie vor Zeiten
und male krumme Linien aufs Papier
und denke mir
nichts dabei…
und leise zieht vor meiner Seele
– wie ein Wunder –
das Leben vorbei.

Helmut Metzker

Wunsch

Ich möchte einmal ausruhn von den Menschen
und allen Dingen um mich her
und eine Zeit verbringen
wie von ungefähr
ein Knabe es im Sommer tut,
wenn er im hohen Grase ruht
und nur den Himmel und die Wolken sieht,
wie dort ein Bussard seine Kreise zieht
und sich die Ähren neigen tief und schwer.
So möchte ich einmal alles um mich her
vergessen und versinken lassen
bis zum tiefsten Grund,
um dann von Neuem zuzufassen –
frisch und gesund.

Helmut Metzker

Konzert am 10. Januar 2015

Lied

Ich bin,
und meine Seele singt
eine Weise aus Danken und Preisen.
Wofür? Das fragt sie nicht.
Sie weiß nur: Ich lebe im Jetzt und Hier,
und der Himmel ist über mir
und mein Atem sein Lied
und sein Atem mein Ahnen und Staunen.

Erde, geliebter Grund, auf dem ich stehe,
im Tanz des Kosmos nimmst du mich mit.
Ich höre die Sterne kreisen, wenn du
der Sonne abgewandt
mich in des Universums Dunkel wirfst.

Und mit ihr mich wieder hervorhebst
in eine Gegenwart, in der ich
ganz erfüllt vom Sein
bereit bin, auch den Schmerz zu lieben,
der Abschied heißt und mich
vielleicht in neue Wunder birgt.

Irmela Dening

Konzert am 6. Dezember 2014

Der Heiland

Immer wieder wird er Mensch geboren
Spricht zu frommen, spricht zu tauben Ohren,
Kommt uns nah und geht uns neu verloren.

Immer wieder muss er einsam ragen,
aller Brüder Not und Sehnsucht tragen,
Immer wird er neu ans Kreuz geschlagen.

Immer wieder will sich Gott verkünden,
Will das Himmlische ins Tal der Sünden,
Will ins Fleisch der Geist, der ewige, münden.

Immer wieder, auch in diesen Tagen,
Ist der Heiland unterwegs, zu segnen,
Unsern Ängsten, Tränen, Fragen, Klagen
Mit dem stillen Blicke zu begegnen,
Den wir doch nicht zu erwidern wagen,
Weil nur Kinderaugen ihn ertragen.

Herrmann Hesse

Konzert am 22. November 2014

Lied vom Weltende

Am Tag des Weltendes
summt um die Kapuzinerkresse eine Biene,
flickt der Fischer das glitzernde Netz,
springen im Meer die lustigen Delphine,
junge Sperlinge krallen sich an der Rinne fest,
und die Schlage ist golden, wie sich das gehört.

Am Tag des Weltendes
gehen Frauen unter Sonnenschirmen übers Feld,
schläft der Säufer am Rasenrand ein,
rufen Gemüsehändler auf der Straße
und das Boot mit gelbem Segel
vor der Insel ist bestellt,
der Klang der Geige hängt in der Luft
und die Sternennacht fliegt vorbei.

Und die auf Blitze und Donnerschlag gewartet haben,
sind enttäuscht.
Und die auf Zeichen und Posaunen der Engel gewartet haben,
begreifen nicht, dass es bereits geschieht.

Solange Sonne und Mond sich oben drehen,
solange die Hummel die Rose befliegt,
solange rosige Kinder geboren werden,
glaubt niemand, dass es bereits geschieht.

Nur der grauhaarige Alte, der ein Prophet sein könnte,
doch er ist keiner, denn er hat anderes zu tun,
sagt beim Anbinden der Tomaten:
Es gibt kein anderes Ende.
Ein anderes Ende wird es nicht geben.

Czeslaw Milosz (Warschau 1943)