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Konzert am 19.10.2019

Bach und die Franzosen – Orgelmusikalische Beeinflussungen zwischen Frankreich und Deutschland

Zu schön wäre die Geschichte, wenn sie tatsächlich wahr wäre. Ein französischer Cembalist von Weltruf wird im Jahre 1717 nach Dresden geladen zu einem Wettbewerb, um sich mit dem seinerzeit stärksten deutschen Clavierspieler zu messen, nämlich Johann Sebastian Bach. Der Legende nach ist der französische Cembalist umgehend und kampflos aus Dresden abgereist, als er Bach beim Einspielen gehört haben solle: er hieß Louis Marchand.

Das kontrapunktische Verarbeiten von mehreren Themen, z.B. in einer Fuge war nicht unbedingt Stil von weiten Bereichen der barocken französischen Orgelmusik.

Marchands Grand Dialogue zeichnet sich dadurch aus, dass die einzelnen Werke der zumeist fünfmanualigen Orgeln miteinander in Dialog gebracht werden: sie sprechen also miteinander. Aber auch innerhalb der einzelnen, rhapsodisch aneinandergefügten Sätze, herrschen dialogisierende Elemente wie Frage und Antwort oder Aussage und Echo vor. Brillant. Französischer Glamour!

Johann Sebastian Bach kannte definitiv Orgelwerke von „Couperin“ und von „de Grigny“, die er zum Teil eigenhändig abgeschrieben hat. In der Fantasie BWV 562 zeigt Bach, wie er als Kontrapunktiker den französischen Stil adaptiert: ein eintaktiges Motiv, gespickt mit Phrasierungen französischer Convenience, ist bis auf den Schluss in jedem Takt präsent.

Bei der Fantasie BWV 572 lassen Titel und die Satzbezeichnungen keinen anderen Schluss zu, dass Bach sich hier im französischen Stil beweisen wollte. Im ersten Satz erklingt eine einstimmige Triolengirlande, die virtuos den gesamten Umfang der Klaviatur umfasst. Danach entwickelt Bach eine Fantasie, die vier Themen kontrapunktisch verwebt. Der Schlusssatz ist in seiner chromatisch abwärtsführenden Pedalbewegung und den darüber entwickelten Sextolen in der Manualstimme an harmonischer Kühnheit unübertroffen und endet in einem grandiosen Finale.

Viele Organisten in Paris und in Frankreich spielten und komponierten seinerzeit eher so wie Marchand. Den Kirchenbesuchern gefiel dieser musikalische Stil, wie aus etlichen Quellen hervor geht. Mit Alexandre-Pierre-François Boëly kommt jemand in Erscheinung, der in Paris an seiner Orgel ein großes, deutsches Pedal einbauen ließ, um Bachsche Werke aufführen zu können. Sein literarisch zu fades Spiel führte zu seiner Entlassung.

C. Franck greift in seinem Stück „Offertoire“ auf das Grundthema der Bachschen Passacaglia BWV 581 auf, das schon von André Raison (1668 – 1719) bekannt ist. Das Offertoire stellt in der katholischen Liturgie die Begleitmusik zur Bereitung der Gaben dar und ist so komponiert, dass je nach liturgischem Ablauf, die Orgelmusik verstummen könne.

Das „Prière à Notre-Dame“ stammt aus der „Suite gothique“ von Léon Boëllmann aus dem Jahre 1895. Nach dem Brand der zentralen Kathedrale Frankreichs, liegt es nahe, dem fast völlig zerstörten gotischen Gebäude mit seiner „Lieben Frau“ musikalisch zu gedenken.

Louis Vierne war lange Jahre Organist an der Pariser Hauptkirche mit ihrer berühmten Cavaillé-Coll-Orgel. Fast völlig erblindet, erlernte er das Orgelspiel und hatte zudem als phänomenaler Improvisator die Möglichkeit, seine Gedanken selbst in Notenschrift zu fixieren. Sein Orgelstück „Cathédrales“ ist eine akustische Kirchenführung für alle Nichtsehenden. Alle Sehenden dürfen durchaus die Augen schließen, wenn es vom Hauptportal in die Kathedrale hinein geht. Die großen Stützmauern und der leicht wackelnde Gang werden ebenso erfahrbar wie die Echowirkungen, die über die Schallwirkungen zur Größenwahrnehmung bei blinden Mitmenschen sorgen können. Der Kirchgang findet seinen Höhepunkt unterhalb der Vierungskuppel, als quasi aus vier Himmelsrichtungen das Hauptthema erklingt und sich ein großartiger Höhepunkt entwickelt. Schall und Musik aus allen Richtungen. Den Schluss hat Vierne so gestaltet, dass man mit dem Gefühl die Kathedrale verlässt, indem man aus der Sakristei ganz leise und ohne große Umstände heraus begleitet wird.

Zu seiner 2016 entstandenen 4. Orgelsymphonie: „Die Marianische“ schreibt Andreas Willscher:

„Die Sätze der vorliegenden Orgel-Symphonie Nr. 4 basieren entweder auf gregorianischen Motiven oder zeichnen mit musikalisch-stimmungsmäßigen Mitteln bestimmte, die Gottesmutter auszeichnende Attribute nach.

Das markante Anfangsmotiv des Salve Regina erklingt zu Beginn des ersten Satzes zunächst im Pedal und findet seine Fortsetzung im Manual. Im anschließenden Durchführungsteil erklingt das Hauptmotiv in verschiedenen Tonarten, um in der abschließenden Coda mit seinen Schlusstönen im Pedal letztmalig zitiert zu werden.

Der zweite Satz – Regina pacis – ist als ruhige Meditation gestaltet. Ein Orgelpunkt auf C erklingt während des gesamten Satzes. In modalem Gestus gestaltet, verwendet das Stück in einigen Takten die (fast schwerelos wirkende) Ganztonleiter.

Der dritte Satz ist mit Mater Dolorosa überschrieben. Spannungsgeladene Akkorde zeichnen den Schmerz der Gottesmutter über das Leiden ihres Sohnes nach. Dieser Schmerz findet auch Ausdruck in den chromatischen Elementen zu Beginn und in der Coda.

Der vierte Satz – Ave Maria – stellt eine mystische Meditation mit Anklängen an das gregorianische Ave Maria, die sich aber dem meditativen Duktus des Stückes unterordnen.

Das gregorianische Thema des fünften und letzten Satzes – Ave maris stella – tritt bereits in der Introduktion deutlich zutage. Es entwickelt sich eine (rhythmisierte) Fughette, an die sich eine Art Carillon anschließt. Das Anfangsmotiv erklingt hier im Pedal, umrahmt von ostinaten Figuren. Eine Steigerung wird erzielt durch die mehrfache Verkürzung der Notenwerte in den Begleitstimmen: Halbe – Achtel – Achtel-Triolen – Sechzehntel-Triolen. Ein majestätisches Finale im Tutti beschließt den Satz und den gesamten Zyklus. […] Möge dieser kleine Zyklus zu vielen „marianischen“ Anlässen erklingen und Spielern wie Zuhörern Freude bereiten.“

Jürgen Poggel; Heinsberg-Kirchhundem